Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge - Herausforderungen können nur gemeinsam bewältigt werden!

BDRhauptstadtFORUM
Foto: VRB
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Podiumsdiskussion: Uwe Harm, Dr. Ralf Kleindieck, Bodo Pfalzgraf, Dr. Christian Strasser, Katja Keul, und Dr. Sabine Sütterlin-Waack.
„Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge – Herausforderungen an den Rechtsstaat“, so lautete das Thema des diesjährigen BDRhauptstadtFORUM am 14. April 2016 in Berlin. Damit hatte sich der Bund Deutscher Rechtspfleger (BDR) erneut einem hochaktuellen Thema angenommen, dessen Aspekte im Rahmen einer Podiumsdiskussion intensiv erörtert wurden.

Der BDR-Bundesvorsitzende, Wolfgang Lämmer, konnte dazu in der Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund Gäste aus der Politik, der Bundes- und Landesjustiz, den Justizgewerkschaften und -verbänden sowie Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger aus der gesamten Bundesrepublik begrüßen. Für den VRB nahmen der Vorsitzende, Matthias Stolp, die Geschäftsführerin, Diana Böttger und der Beauftragte des Vorstands, Kai-Uwe Menge, an der Veranstaltung teil.

Unter der Moderation von Rechtsanwalt Dr. Christian Strasser, München, diskutierten Dr. Ralf Kleindieck (SPD), Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Katja Keul, MdB und Rechtspolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU), MdB und Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Bodo Pfalzgraf, Landesvorsitzender des Landesverbandes Berlin der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG Berlin) und Uwe Harm, Landesvorsitzender des BDR Schleswig-Holstein und Beisitzer im Vorstand des Betreuungsgerichtstag e.V. (BGT).

Als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden Menschen bezeichnet, die noch nicht volljährig sind und ohne sorgeberechtigte Begleitung aus ihrem Heimatland in ein anderes Land flüchten oder dort zurückgelassen werden. Die Gründe hierfür sind vielfältig, beispielsweise werden Minderjährige allein von ihren Familien nach Europa vorausgeschickt, andere haben ihre Angehörigen zuvor im Krieg verloren oder verlieren sie während der Flucht. Etwa 65.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben derzeit in Deutschland, so die Statistik. Viele von Ihnen haben ein besonderes Schicksal und bedürfen daher besonderer Unterstützung. Ihre zunehmende Anzahl stellt jedoch nicht nur die Jugendämter und Familiengerichte, sondern auch die Bundesregierung vor große Herausforderungen.

Erst vor wenigen Tagen musste das Bundesinnenministerium auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die auch von Katja Keul mitveranlasst wurde, einräumen, dass im vergangenen Jahr 5.835 minderjährige Flüchtlinge in Deutschland verschwunden sein sollen. Die Parlamentarier zeigten sich vor dem Hintergrund des Ergebnisses besorgt, dass die Bundesregierung die Gefahren durch Zwangsprostitution und Ausbeutung nicht ernsthaft in Betracht ziehe.

Bei der Erörterung der Ursachen für diese hohe Anzahl wurden von den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern Vielfachzählungen oder andere Registrierungsfehler, Weiterreisen in andere Länder, aber auch politisches Versagen konstatiert.

Staatssekretär Dr. Kleindieck bestätigte die vorhandenen Probleme bei der Registrierung. Dazu erläuterte er zunächst die Ausgangslage: „Derzeit halten sich etwa 65.000 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern in Deutschland auf, die man grob in drei Gruppen einteilen kann. Da sind zum einen die meistens männlichen Jugendlichen, die von ihren Eltern und Familien – vornehmlich aus Afghanistan – losgeschickt werden, um in der Ferne ihr ,Glück’ zu suchen. Dabei muss man auch berücksichtigen, dass diese Jugendlichen in ihren Herkunftsländern im Alter von 15/16 Jahren häufig bereits als Erwachsene gelten. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich vor allem um syrische minderjährige Flüchtlinge, die auf der Flucht vor dem Krieg im eigenen Land von ihren Eltern, die versuchen, später nachzukommen, vorausgeschickt werden. Und schließlich gibt es da eine dritte Gruppe derer, die quasi ,unabsichtlich’ allein in Deutschland ankommen, da sie von ihren Eltern auf der Flucht getrennt werden oder deren Eltern schlimmstenfalls die Flucht nicht überlebten“. Er verhehlte nicht, dass bedauerlicherweise als Ursachen für das zahlreiche Verschwinden der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auch Fälle von Missbrauch, Prostitution und Menschenhandel nicht ausgeschlossen werden könnten. „Ich bin aber der Ansicht, dass dies lange nicht in dem Umfang der Fall ist, wie es zum Teil dargestellt wird“, so Kleindieck.

Es sei vielmehr davon auszugehen, dass ein Großteil von Jugendlichen sich selbstständig auf den Weg gemacht hätten, um zu Angehörigen und Bezugspersonen zu gelangen oder weil sie sich in anderen Städten bessere Aufnahmebedingungen erhofften. Sobald sie aus der Einrichtung verschwänden und nach 24 Stunden nicht wieder auftauchten, würden sie als vermisst gemeldet.

Man dürfe schließlich auch nicht vergessen, dass gerade junge Menschen sich gerne der Obhut Erwachsener entzögen. „So kann es auch zu Mehrfachmeldungen kommen, wenn sich beispielsweise ein Jugendlicher quasi auf eine Reise durch Deutschland von München über Hannover nach Rostock begibt, dabei immer wieder zunächst von den Jugendämtern aufgenommen und – oft jedes Mal unter anderem Namen, weil sich die Jugendlichen immer wieder neue Namen geben – registriert, aber schließlich nach 24 Stunden wieder als vermisst gemeldet wird, nachdem er sich heimlich davongestohlen hat“, bestätigte Bodo Pfalzgraf aus polizeilicher Sicht.

Vor dem Hintergrund der unzureichenden personellen Ausstattung der Jugendämter und der daraus resultierenden Überlastung kritisierte Uwe Harm zudem die Gestaltung der Aufnahmestrukturen. Er befand die Regelungen zur vorläufigen Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen nach unbegleiteter Einreise (§ 42 a SGB VIII) als unzureichend. Diese führe auch dazu, dass die Jugendämter sehr schnell bei den Familiengerichten Vormundschaften für die betroffenen ausländischen Jugendlichen beantragten. Der BDR fordere zur Erleichterung und Beschleunigung der Verfahrensabläufe eine gesetzliche Beistandschaft für die Jugendämter in Anlehnung an die Regelungen gem. §§ 1712 ff. BGB, welche die elterliche Sorge unberührt lässt und sofort ohne Einschaltung der Familiengerichte in Kraft tritt.

Auch Katja Keul sah in der mangelhaften Personaldecke in allen Bereichen – nicht nur bei den Jugendämtern und den Rechtspflegern – ein maßgebliches Problem. „Ich erachte es als verheerenden Fehler, dass die Verantwortlichen nicht viel früher reagiert haben, obwohl vieles von dem, was nun eingetreten ist, doch schon weitaus früher absehbar war“, so Keul.

Im Hinblick auf den Personalmangel erinnerte Uwe Harm an die besondere Verantwortung der Länder, die Justiz als dritte Gewalt ausreichend personell auszustatten. Die Länder würden dieser Verantwortung seiner Ansicht nach nicht gerecht, wenn sie die Justiz mit den übrigen Ressorts einfach gleichstellten.

Als weiterer Aspekt in der überaus interessanten Diskussion wurde die Auswahl eines geeigneten Vormunds für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge angesichts bestehender Sprachbarrieren, unterschiedlichster kultureller und religiöser Hintergründe sowie eventuell erlittener Traumata, beleuchtet. „Wir sind im Moment nicht darauf vorbereitet, dass wir für 65.000 Jugendliche Vormünder brauchen!" brachte Dr. Ralf Kleindieck die Sache auf den Punkt.

In der Praxis werden in den meisten Fällen Amtsvormünder vorgeschlagen, denn obwohl das Jugendamt gefordert ist, geeignete Privatpersonen zu suchen und auszubilden, passiert dies relativ selten.

Katja Keul und Dr. Sabine Sütterlin-Waack sahen als Rechtanwältinnen ihren Berufsstand als geeignet an, da ja auch ein großer Rechtsberatungsbedarf bestehe. Allerdings blieb die hierfür notwendige Finanzierung offen.

Uwe Harm machte deutlich, dass zusätzliche Anreize geschaffen werden müssten, um ausreichend Freiwillige zu finden, die zur Übernahme eines solchen Amtes bereit wären. Zugleich erinnerte er an die Aufgabe eines Vormunds, in erster Linie den Bedürfnissen des Mündels gerecht zu werden. Um das Verfahren zur Bestellung eines Vormunds beim Familiengericht zu beschleunigen und Reibungsverluste vermeiden zu können, sollte es aus Sicht des BDR vollständig auf den Rechtspfleger übertragen werden. Er betonte dabei, dass man dieses Anliegen im Zusammenhang mit der bereits thematisierten weiteren Forderung des BDR sehen müsse, und zwar nach einer gesetzlichen Beistandschaft für die Jugendämter, so dass die Familiengerichte auch erst viel später tätig werden müssten.

Im Resümee der Diskussion hielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fest, dass die Herausforderungen im Zusammenhang mit den minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen nur gemeinsam von Politik, Gesellschaft, Verwaltung und Justiz und nur mit ausreichend personeller Ausstattung bewältigt werden können. Das Engagement werde sich aber lohnen und Chancen für Deutschland eröffnen.

Wie auch in den Jahren zuvor, bestand im Anschluss für alle Anwesenden die Möglichkeit, bei einem Stehempfang die Diskussion in kleinen Kreisen fortzuführen und sich über persönliche Erfahrungen mit diesem Thema auszutauschen. Auch das BDRhauptstadtFORUM 2016 fügt sich damit in eine Reihe gelungener Veranstaltungen ein und wir dürfen bereits jetzt auf das nächste BDRhauptstadtFORUM im kommenden Jahr gespannt sein.

Artikel zum Thema: "Vermisste Flüchtlinge - Die Suche nach Ahmed E." (www.deutschlandfunk.de)

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